Einladung zum Innehalten
Von der hellen Strasse ins bunte Dämmerlicht treten, eine Kerze anzünden, ein Gebet aufschreiben und ganz bei sich sein: offene Kirchenräume werden rege zum kurzen Innehalten genutzt.
«Lieber Gott, lass alle meine Liebsten gesund bleiben, und auch mich!» – «Lieber Gott, ich möchte inneren Frieden und Gelassenheit, Danke» – «Liebe Gott, danke, dass du mir so es wunderbars Chind gschenkt hesch.» An der Gebetswand der Kirche St. Laurenzen in St. Gallen hängen ein Dutzend handbeschriebener Karten, die meisten auf deutsch, daneben englisch, spanisch, chinesisch. Davor liegt ein aufgeschlagenes Buch, das ebenfalls einlädt, einen Gedanken, eine Sorge oder Bitte zu notieren. Auf der anderen Seite des Mittelgangs steht der Kerzentisch, die dritte Einladung, das persönliche Gebet mit einer kleinen, sichtbaren Handlung zu verbinden.
Um Hilfe und Beistand bitten…
Ein Kerzlein für jemanden anzünden, das kennt man vor allem bei den Katholiken. In den reformierten Kirchen der Schweiz dagegen ist das Ritual gerade einmal fünfzehn Jahre alt: So lange steht der Kerzentisch des St. Galler Künstlers Hans Thomann nun schon hier. In die Tischfläche sind feine Linien gefräst, Lebenslinien, die sich kreuzen, nebeneinandergehen und in die Höhe weisen. Von Anfang an sei die Resonanz gross gewesen, so Mesmerin Bea Känel. An manchen Tagen brennen nur ein paar wenige Kerzen, an anderen ist er ganz voll, vor allem, wenn etwas die Welt erschüttert, der Ausbruch des Ukrainekriegs etwa, oder eine Naturkatastrophe. Abgesehen davon brauche es in der dunkleren Jahreszeit mehr Lichtlein als im Sommer.
… und dabei selbst Hilfe leisten
Bevor die Kirche öffnet, macht Känel jeden Morgen als erstes den Kerzentisch für den Tag bereit, beseitigt Wachsreste und füllt neue Kerzen auf. Hin und wieder muss sie auch auf der Gebetswand Platz für neue Bitten machen. Nie könnte sie die Blätter einfach wegwerfen. Stattdessen werden sie gesammelt und einmal im Jahr mit einer speziellen Fürbitte in den Gottesdienst aufgenommen. Was aber die Kerzen angeht, so entfaltet sich ihre Wirkung doppelt: einmal im Moment des Innehaltens. Das zweite Mal, indem ihr Verkaufserlös, meist zwischen 3000 und 5000 Franken pro Jahr, einem Hilfsprojekt irgendwo auf der Welt zugutekommt.
Text: Julia Sutter, Bild: Andreas Ackermann